Dr. Renée Gadsden
„Die Gegenwart ist wie eine Leinwand, die ich mit Freude bemale.“ /D
Ein Blick auf die Arbeit von Dora Mai
Alle glücklichen Familien ähneln einander
— Leo Tolstoi, Anna Karenina
Die Bilder von Dora Mai sind wie Anker im Meer der Zeit. Sie sind Momentaufnahmen des Lebens, der Versuch, einen ewigen Augenblick zu schaffen, indem vergangene Momente in die Gegenwart transportiert werden. Deshalb ist Dora Mai so fasziniert vom Schwimmen und von Schwimmern. Wenn man im Wasser ist, ist man komplett eins mit sich selbst. Mai ist vierfache Mutter und weiß genau, dass, wie sie sagt, „alle Menschen buchstäblich aus dem Wasser kommen“. Sie glaubt, dass Menschen sich auf eine ursprüngliche Weise nach dem Wasser sehnen. Bevor wir Luft atmen konnten, war Wasser unsere gesamte Umgebung, die uns allumfassend berührte und umarmte. Mai spricht davon, dass sie in ihren Werken ein intensives Körpergefühl darstellen möchte. Der Moment einer Berührung ist etwas sehr Kostbares, und diese Kostbarkeit wird allzu oft übersehen: „Ich feiere die Einzigartigkeit dieses flüchtigen Augenblicks“.
Acrylfarbe ist Dora Mais bevorzugtes Medium. Die Schnelligkeit und Fließfähigkeit dieser Farbe ermöglicht es ihr, sich ganz auf den Rhythmus des Malprozesses einzulassen, ohne so viel Zeit aufwenden zu müssen wie bei der Arbeit mit Ölfarbe. Die Leinwände sind reichhaltig geschichtet, und die Acrylfarbe ermöglicht es Dora Mai, sich auf malerisch befriedigendere Weise mit optischen Phänomenen auseinanderzusetzen, die sich aus dem sich wandelnden Charakter des Wassers oder der Natur ergeben. Besonders auffällig ist ihre Farbgebung: Lebhafte Farbtöne, die mit gedämpften Tönen kombiniert werden, erzeugen eine Spannung, die die Bilder belebt. Das Spiel mit Licht, Brechungen und Reflexionen, das sie erzielt, macht ihre Arbeiten visuell unterhaltsam. Ihre Leinwände und öffentlichen Kunstprojekte zeigen ihre Motive in direkten und freien Pinselstrichen, die es dem Betrachter ermöglichen, die Szenarien mit seiner eigenen Vorstellungskraft zu vervollständigen. Dora Mai geht direkt mit ihren Leinwänden um. Sie macht keine Vorzeichnungen oder Skizzen. Die Magie der Malerei liegt für sie in der Dynamik der Geschwindigkeit und einem prozessorientierten Ansatz, bei dem Gedanken, Gefühle und Handlungen nahtlos ineinander übergehen.
Mais Faszination für Licht als künstlerisches Phänomen steht auch im Zusammenhang mit der phänomenologischen „unerträglichen“ Leichtigkeit des Seins, über die der tschechische Autor Milan Kundera im französischen Exil während des kommunistischen Regimes in seinem Heimatland schrieb. Die Leichtigkeit des Seins zu akzeptieren bedeutet, einen gewissen Mangel an ultimativer Bedeutung im Leben zu akzeptieren und für die augenblickliche Schönheit zu leben. Dora Mai ist sich der Einmaligkeit des Lebens im gegenwärtigen Moment bewusst, was vielleicht vor allem auf ihre Familiengeschichte zurückzuführen ist. Ihr Großvater gehörte zur deutschen Minderheit in den baltischen Staaten („Deutsch-Balten”), die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurde. Er durchquerte den europäischen Kontinent praktisch nur mit den Kleidern, die er am Leib trug, und landete in der Region um den Wolfgangsee, wo er seine Frau kennenlernte, eine Familie gründete und sich in Österreich niederließ. Aus den wenigen erhaltenen Familienfotos, seinen Erzählungen und den Notizen, die er nach seiner Pensionierung über seine Geschichte zu schreiben begann, konstruiert Mai visuelle Zeugnisse, malt Porträts von Menschen und Landschaften, die zwischen Nostalgie, Liebe und Tod existieren.
Sie erweitert ihr Interesse am malerischen Geschichtenerzählen auf die Gegenwart und malt ihre eigenen Kinder beim Spielen und Schwimmen oder verwendet gefundene Fotos von Familien anderer Leute. Mai findet diese „vergessenen“ Fotos besonders bewegend, weil sie mit Zärtlichkeit und Respekt erkennt, dass die abgebildeten Menschen zu diesem Zeitpunkt wichtig genug waren, für sich selbst oder für jemand anderen, um fotografiert zu werden. Ihre Kunst spiegelt nicht nur häufig die (emotionalen) Landschaften wider, die mit dem kulturellen Erbe verbunden sind, sondern Mais Verwendung von Farbe und Form fängt auch die Essenz der Sehnsucht und Selbstbeobachtung ein und lädt die Betrachter dazu ein, sich mit ihren eigenen kulturellen Erzählungen auseinanderzusetzen. Ihre emotionale Tiefe ermöglicht es ihr, ein breites Publikum anzusprechen und ein Gefühl des gemeinsamen Verständnisses und der Empathie über Generationen hinweg zu fördern.
Dora Mai hat ihr Leben der Erforschung, Verteidigung und Erweiterung der Welt der Frauen gewidmet. Sie erinnert uns stolz daran, dass die meisten ihrer gemalten Motive Frauen sind, die in jeder Lebensphase von der Wiege bis zur Bahre dargestellt werden. Mai betont auch, dass die Frauen, die sie malt, aktive Wesen sind. Sie schaffen die Handlung, sie tragen die Geschichten. Die Frauen in der Welt von Dora Mai sind nicht die Beobachteten. Sie sind die Beobachterinnen, und zumindest in ihrem kreativen Universum haben Frauen die Herrschaft über ihren Körper, ihre Rechte und ihr Leben. In Faust II schrieb Johann Wolfgang von Goethe: „Das Ewig-Weibliche/Zieht uns hinan“. Das ist eine perfekte und prägnante Beschreibung von Dora Mais kreativem Werdegang.
Dora Mai zeigt uns, wie Kunst frei ist, Menschen mit neuen Erzählungen zu erreichen, die jedem Einzelnen neue Wege eröffnen, sich besser zu fühlen. Durch ihre Arbeit werden wir eingeladen, die Schönheit und Komplexität der menschlichen Erfahrung zu erkunden. Die Kunst von Dora Mai spiegelt die Künstlerin selbst wider. Ihre Vitalität, Widerstandsfähigkeit, Fröhlichkeit, Freundlichkeit, Mitgefühl, schnelle Auffassungsgabe, körperliche Anmut, Hartnäckigkeit, Hoffnung, kombiniert mit einer flüchtigen Ängstlichkeit und dem Glauben an dauerhafte, traditionelle Werte, wie sie die europäische Kultur verkörpert, machen Dora Mai zu einer Künstlerin mit einer fruchtbaren und erfreulichen Vision. Ihr Werk bereichert die österreichische Kunstszene unmittelbar und präsentiert uns ein Gesamtwerk, das es den Betrachtern ermöglicht, die Schönheit und den Wert des Selbst, des eigenen einzigartigen Familienerbes und des Erbes der Menschheit weltweit und im Laufe der Jahrhunderte wahrzunehmen.
© Essay: Dr. Renée Gadsden, 2025
“The present is a canvas, and I paint it with joy” //E
A look at the work of Dora Mai
All happy families resemble each other
Leo Tolstoy, Anna Karenina
The paintings of Dora Mai are anchors in the sea of time. They are snapshots of life, the attempt to create an eternal present moment by transporting past moments into the now. That is why Dora Mai is fascinated by swimming and swimmers. When one is in the water, one is completely in unity with oneself. Mai is a four-time mother, and is keenly aware of the fact that, as she says, “all human beings literally come out of water”. She believes that people long for the water in a primordial way. Before we could breathe air, water was our entire environment, providing an all-encompassing touch and embrace. Mai speaks about wanting to depict an intensive bodily feeling in her works. The moment of a touch is something very precious, and this pricelessness is something that is too often overlooked: “I celebrate the uniqueness of this fleeting moment”.
Acrylic paint is Dora Mai’s preferred medium. The speed and fluidity of that the paint allows her to submerge herself into the rhythm of the painting process without using time the way that is necessary for working with oil paint. The canvases are richly layered, and the acrylic lets Dora Mai grapple with optical phenomena derived from the changing character of water or nature in a painterly more satisfying way. Her use of color is particularly striking; vibrant hues juxtaposed with muted tones create tension that enliven the paintings. The play of light, refractions and reflections that she achieves makes her work visually entertaining. Her canvases and public art projects portray her subjects in direct and free brushstrokes that allow the viewer to complete the scenarios with their own imaginations. Dora Mai engages with her canvasses directly. She does not make a preliminary drawing or sketch. The magic of painting for her lies in the dynamism of speed and a process-based approach where thought, feeling and action merge seamlessly into each other.
Mai’s fascination with light as an artistic phenomenon is also allied with the phenomenological “unbearable” lightness of being, as the Czech author Milan Kundera wrote about in French exile during the Communist regime in his home country. Accepting the lightness of being means accepting a certain lack of ultimate meaning in life, and living for momentary beauty. Dora Mai is attuned to the unique value of life in the present moment, perhaps largely as a result of her family history. Her grandfather was of the German minority in the Baltic states (“Deutsch-Balten”) that were expelled in the aftermath of the Second World War. He walked across the continent of Europe with practically only the clothes on his back and landed in the Lake Wolfgangsee area, where he met his wife, founded a family and settled in Austria. From the few family photographs that remain, from his stories and from the notes he began to write about his history after he was retired, Mai constructs visual witnesses, paints portraits of people and landscapes that exist between nostalgia, love and death.
She extends her painterly storytelling interest to the present, painting her own children as they frolic and swim, or uses found photographs of other people’s families. Mai finds these “forgotten” photographs to be especially moving, because she realizes, with tenderness and respect, that the people portrayed were at that moment in time important enough, to themselves or to someone else, to merit being photographed. Not only does her art frequently reflect the (emotional) landscapes tied to cultural heritage, Mai’s use of color and form captures the essence of longing and introspection, inviting viewers to engage with their own cultural narratives. Her emotional depth allows her to connect with a wide audience, fostering a sense of shared understanding and empathy across generations.
Dora Mai has devoted her life to exploring, defending and expanding the world of women. She proudly reminds us that most of her painted subjects are women, rendered in every phase from the cradle to the grave. Mai also emphasizes that the women she paints are the vibrant ones. They create the action; they carry the stories. The women in the world of Dora Mai are not the observed. They are the observers, and at least, in her creative universe, women have hegemony over their bodies, rights and lives. In Faust II, Johann Wolfgang von Goethe wrote that “the eternal feminine draws us onwards and upwards”. That is a perfect and succinct description of Dora Mai’s creative journey.
Dora Mai shows us how art is free to reach people with new narratives that open ways for each individual to feel better about themselves. Through her work, we are invited to explore the beauty and complexity of the human experience. The art of Dora Mai exemplifies the artist herself. Her vitality, resilience, good cheer, kindness, compassion, quickness of thought, physical beauty, stubbornness, hopefulness combined with a flickering fearfulness, and belief in lasting, traditional values that are exemplified by European culture make Dora Mai an artist with a fertile and enjoyable vision. Her oeuvre enriches the Austrian art scene directly and presents us with a body of work that allows the viewers to perceive the beauty and the worth of the self, the own unique family heritage, and that of humanity throughout the world and throughout the ages.
© Essay: Dr. Renée Gadsden, 2025
die melancholie des augenblicks
alles fließt, zerfließt, löst sich auf und nimmt in fremder form wieder gestalt an. in der dynamik des fallenden tropfens gibt es kein gestern. reflexionen, spiegelungen unter wasser geben realen konturen etwas traumhaft abstraktes, als würde beim eintauchen ein sich alles auflösender urgedanke von den körpern besitz ergreifen. die freude, der augenblick des eintauchens, bricht sich an den reflexionen, wellen schaukeln das licht, ein dreieck, ein zitternder stern auf unserer haut, gräbt sich ein in die erinnerung, spiegelungen, ein weiteres eintauchen, abtauchen in uns selbst.
jede reflexion, jede spiegelung, jeder atemzug ist im hier und jetzt verankert und schon morgen verwässert und ohne bedeutung im strom der vergänglichkeit, versunken. . .
doch dieser festgehaltene augenblick ist ein großes fest, ein rausch in türkis, ein untergetauchtes rot, eine revolte gegen den strom der zeit, die sich immer gegen den augenblick richtet.
wellenschläge, reflexionen auf dem wasser. sie sind die wahren sekundenzeiger unserer zeit. wir tauchen ein und verschwinden in uns selbst.
© daniel böswirth, mai 24
Wellen der Inspiration // Spiegelungen im Wasser // Eine Ode an die Ewigkeit von
Text zur Ausstellung Wasser oder vom Murmeln der Zeit, Mai 2024
Dora Mai und Greta Znojemsky
Die interdisziplinäre Ausstellung Wasser oder Vom Murmeln der Zeit bringt die künstlerischen Arbeiten von Dora Mai und Greta Znojemsky in einen spannungsvollen Dialog und erforscht dabei die Vielschichtigkeit sowie unterschiedliche Bedeutungsebenen des Elements Wasser. Die Alte Schiebekammer im 15. Wiener Gemeindebezirk, ein ehemaliges Wasserreservoir, dient dabei als Bühne für die Gegenüberstellung und erzählt zugleich Geschichten von Wasser, Versorgung und Leben. Die künstlerischen Installationen und Malereien greifen ebendiese Narrative auf und überführen sie in die Sprache der Kunst.
Für Dora Mai stellt sich die Malerei in einen Dialog mit der Welt, in dem sie die Vergänglichkeit und das Zeitliche einfängt. Sie betrachtet die Malerei als Möglichkeit, Vergangenes in die Gegenwart zu bringen, damit bestimmte Momente physisch im Hier und Jetzt festzuhalten und auch weiterzuentwickeln. Nähe, Distanz sowie Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur sind zentrale Sujets ihrer großformatigen Leinwände. In der Dialogausstellung erforscht die Künstlerin verschiedene Dimensionen des Wassers. Zunächst fokussiert sie sich auf Wasser als sensorisches Erlebnis sowie das damit verbundene Körpergefühl und transferiert dieses auf ihre Bildwelten. Ihre in eine blau-rote Farbpalette getauchten Gemälde zeigen Frauen, meist in roten oder pinken Bikinis, die sich im Wasser bewegen, schwimmen, tauchen und das Gefühl von Schwerelosigkeit und innerer Ruhe ausstrahlen. Die Zeit scheint stillzustehen, äußere Einflüsse verblassen, die Figuren verschmelzen mit der Natur, sind ganz bei sich und folgen dem Wasser. Dabei dient der dynamische Pinselstrich als Vermittlungsinstanz zwischen der kühlen Widerständigkeit und seiner Dynamik in den sanften Wellenbewegungen. Komplexe Lichtbrechungen und Spiegelungen laden dazu ein, die eigene Wahrnehmung und körperliche Empfindung zu hinterfragen und eröffnen somit neue Perspektiven.
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Hélène Cixous‘ Zitat „Wir sind selbst Meer, Sand, Korallen, Algen, Strände, Gezeiten, Schwimmerinnen, Kinder, Wellen“1 zieht sich als Leitgedanke durch die Ausstellung und unterstreicht die tiefgehende Verbindung zwischen Mensch und Natur. Wasser oder Vom Murmeln der Zeit regt zum Nachdenken über unsere Beziehung zum Wasser an, lässt uns aufhorchen und Antworten auf gesellschaftskritische und umwelttechnische Fragen suchen.
1 Hélène Cixous, Das Lachen der Medusa, 1975.
© paula marschalek, mai 24